PENTIMENTI REDUX von David Galloway Am 8. November 1895 entdeckte der deutsche Physiker Wilhelm Conrad Röntgen eine Strah- lung, die die Oberflächen von Dingen durch- dringen und so ein Bild von Strukturen ent- stehen lassen konnte, die dem bloßen Auge verborgen sind. Da sie bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt waren, taufte er sie schlicht ‚x-rays‘ – ein Terminus, unter dem sie bis heute in vielen Teilen der Welt bekannt sind. Zur Würdigung ihres Entdeckers und des ersten Nobelpreisträ- gers für Physik ist in der deutschen Sprache die Bezeichnung Röntgenstrahlen geläufig. Gut einen Monat nach seiner Entdeckung fertigte Röntgen ein Radiogramm der linken Hand sei- ner Frau an, auf dem auch der schlecht sitzende Ehering zu sehen war, und schickte es an einige seiner Kollegen. Im Rahmen der öffentlichen Bekanntmachung seiner Entdeckung wurde dieses Bild am 24. Januar 1896 vorgestellt. In vollem Bewusstsein über die Tragweite seiner Forschungsergebnisse – insbesondere im Be- reich der diagnostischen Medizin – und in der Hoffnung, andere Wissenschaftler würden die- se weiter vorantreiben, lehnte er die Paten- tierung des neuen Verfahrens ab. Und so ent- wickelten sich die Anwendungsmöglichkeiten der Radiografie schnell und weit über die medi- zinische Diagnose hinaus und fanden auch in der Geologie Anwendung sowie in der Meteoro- logie, im Ingenieurwesen, in der Biologie, in Kunst, Architektur und Archäologie, in der ana- lytischen Chemie und heute auch in der Sicher- heitstechnologie. Angesichts unserer Gewöhnung an die Ge- schwindigkeit, mit der sich Informationen im digitalen Zeitalter verbreiten, erscheint es gleichwohl erstaunlich, dass Röntgens Technik bereits wenige Wochen nach der Veröffent-lichung, am Valentinstag des Jahres 1896, von dem Frankfurter Physiker Walter König für die Analyse von Gemälden fruchtbar gemacht wurde. Alexander Toepler, ein Kollege aus Dresden, folgte ihm schon wenig später. Die starke Konzentration von Blei in der Grund- ierung der meisten Gemälde erleichterte das Erstellen von überraschend detaillierten Bildern des „Innenlebens“ der durchleuchteten Werke und bot, trotz der noch vergleichsweise primi- tiven technischen Aus - rüstung, zuvor nie gesehene Einblicke in das Handwerk der Ma- lerei. Wichtiger noch als das, was solche Aufnahmen mit Blick auf den individuellen Gestus oder die Handschrift eines Künstlers zu erkennen ermöglichten, war, dass sie auch Einblick in die Genese eines Gemäldes gewähren konnten. Das betrifft beispielsweise zugrunde liegende Skizzen und den anschließenden Auftrag von Farbschichten zum Erlangen unterschiedlicher Effekte, wie mitunter auch sehr umfangreiche Korrekturen im Prozess des Malens. Die soge- nannten Pentimenti sind sowohl für stilistische Analysen als auch für die Authentifizierung ei- nes Werks von zentraler Bedeutung. Der Begriff leitet sich etymologisch vom Italienischen pentirsi (etwas bedauern, sich etwas anders überlegen) her und beruht ursprünglich auf dem Lateinischen paenitere (to regret). Dabei han- delt es sich um Veränder - ungen, die der Künstler im Verlauf des Malens an dem Bild vor- genommen hat – meist aus ästhetischen Grün- den, mitunter aber auch aus persönlichen oder gar politischen Erwägungen. Ein Gemälde, das keinerlei Pentimenti aufweist, ist um einiges wahrscheinlicher eine Kopie, um nicht zu sagen eine regelrechte Fälschung, weshalb versierte Fälscher oft ältere Gemälde als Malgrund ver- wenden. Die radiografische Untersuchung ist zu einem wichtigen Hilfsmittel der Restauratoren geworden, die so spätere Überarbeitungen eines Werks nachweisen können. Bekanntlich waren diese nicht selten das Resultat einer übertriebenen gesellschaftlichen Prüderie. Gleichzeitig können auf diesem Weg nicht nur kompositorische oder motivischeVeränderungen sichtbar gemacht, sondern auch versteckte Schätze ans Tageslicht befördert werden. So verbirgt sich unter Rembrandts Meisterwerk Tobias und der Engel (1652) das Porträt eines unbekannten Mannes. Und Alter Mann mit Bart (1630), ein kleines Gemälde auf Holz, das zu- nächst nicht einmal als echter Rembrandt galt, verdeckt ein eindrucksvolles Selbstporträt des Künstlers als junger Mann. Mitunter sind Künstler so unzufrieden mit einem Werk, dass sie es recyceln – oder sie haben so wenig Material zur Verfügung, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt. Experten schätzen, dass einem guten Drittel des Frühwerks von van Gogh solche übermalten Bilder zugrunde liegen, die vermutlich dem chronischen Geldmangel des Künstlers zum Opfer fielen. Unter seinem Gemälde Gras (1887) haben die Röntgenstrah- len den Kopf einer Bäuerin zum Vorschein ge- bracht – und damit ein Werk, das ursprünglich wohl zu einer ganzen Serie mit Porträts gehörte. Neben solchen primär monetären hat es auch politische Gründe für das „Beerdigen“ eines Bil- des unter einem anderen gegeben. Francisco de Goyas Porträt des Don Ramon Salué (1823), eines berühmten spanischen Richters, verbirgt das raffinierte, aber unvollendete Bildnis eines französischen Generals – aller Wahrschein - lichkeit nach Joseph Bonaparte, der kurze Zeit als König über Spanien herrschte. Goya war dessen Hofmaler, hatte mit der Restauration der Monarchie im Jahre 1813 allerdings keinerlei Interesse mehr daran, mit diesem Gemälde die enge Beziehung zu seinem vormaligen Arbeit- geber belegt zu sehen. Ob nun als ästhetische Entscheidung, als Er- gebnis eines künstlerischen Pragmatismus oder als eine Form der Zensur, haben uns Pentimenti viel über die Motivationen und Techniken eines Künstlers zu erzählen – und mitunter sogar über seinen Lebenslauf. Dennoch ist mir kein direkter Vorläufer zu der spezifischen Technik bekannt, die Harding Meyer im Verlauf seiner außeror- dentlich produktiven Tätigkeit entwickelt hat und in der die unteren Schichten eines Gemäldes zu einem integralen Bestandteil des Werks wer- den. Obwohl er die auf seinen Bildern Darge- stellten mit in technischer Hinsicht brillanter Virtuosität wiedergibt, greift er immer wieder die Ober - fläche seiner Bilder an und negiert damit jeden fotorealistischen Impetus genauso wie das einfach nur „Hübsche“. (In einigen der jün- geren Werke sind die Gesichter der Meyer’schen Porträts so sehr ins Groteske verzerrt, dass sie an die von Francis Bacon er- innern mögen.) In einem komplexen Prozess, der bis zu sechs Monate Zeit in Anspruch neh- men kann, wird ein Bild aus zehn oder sogar fünfzehn Schichten aufgebaut, wobei oft mar- kante Änderungen in der Farbgebung sowie in den Details vorgenommen werden. Dabei wer- den noch feuchte Schichten mit einem Pinsel ganz bewusst verwischt oder abgeschabt, neue Schichten aufgetragen und diese wiederum partiell abgetragen. Das in den vollendeten Werken Sichtbare ist von daher eine amalga- mierte, eine vermischte malerische Information, bei der die Spuren der Pentimenti eine kon- stitutive Rolle spielen. Gerade dieser Prozess verleiht den Gemälden Meyers ihre spezifische stoffliche Beschaffenheit und ihre seltsam dif- fuse, verschleierte Oberfläche. Auch wenn Harding Meyer gelegentlich Drei- viertel- und Ganzkörperbilder gemalt hat, ist er vor allem für seine Porträts von Modellen aus den Massenmedien bekannt, deren Gesichter so beschnitten sind, dass der Fokus zwischen dem Haaransatz und dem Kinn liegt. Indem er eine frühere, abstrakte Werkphase hinter sich gelassen hatte und Familienfotos als Quelle für Motive zu verwenden begann, fand Meyer damit einen Weg, die menschliche Physiognomie in den Fokus zu nehmen. „Ich musste gar nicht nach Modellen suchen“, so erinnerte er sich unlängst, „mir ist schnell klar geworden, dass das Malen einer unbekannten Person mir die Freiheit gab, meinen eigenen Stil zu ent - wickeln.“ Das Ableiten seiner Bilderwelt aus der Werbung, aus Modemagazinen und dem Internet, aber auch von Stills aus Talkshows, weist eine gewisse Affinität zu Andy Warhol auf, der in seinen Siebdruckgemälden vorgefun - denes Bildmaterial monumentalisierte und so der kollektiven Erinnerung überantwortete. Man könnte in Meyers Porträts den Versuch am Werk sehen, den Dargestellten zu eben den „fifteen minutes of fame“ zu verhelfen, von dem Warhol einmal sprach. Als Bilder, die von der Kunst aus der Flut visueller Informationen, in der unsere Wahrnehmung der Realität zu ver- sinken droht, gerettet wurden, kann man seine in den Massenmedien gefundenen Modelle jedoch auch von einem ganz anderen Stand- punkt aus betrachten. Doch auch wenn Meyer, wie Warhol vor ihm, auf fotografische Quellen zurückgreift, sind die Herangehensweisen der beiden Künstler sehr verschieden. Nur wenige der von Warhol Dar- gestellten waren Unbekannte. Als kränk - liches Kind immer wieder lange Zeiten ans Bett ge- fesselt, wurde er zu einem leidenschaftlichen Leser von Filmzeitschriften. Es ist daher nicht überraschend, dass Stars und Prominente wie Marilyn Monroe, Elizabeth Taylor, Judy Garland, Marlon Brando, Mick Jagger, Elvis Presley und Jackie Kennedy zu seinen be- kanntesten Modellen gehörten – zusammen mit Mickey Mouse und Mao Zedong. Meyers Mo- delle sind hingegen nicht nur Namenlose. Viele der Porträtierten sind zudem seine eigenen Ge- schöpfe. Sie sind (oft) aus mehreren Vor- lagen zusammengesetzt und mit verschiedenen elek- tronischen Bildbearbeitungs- verfahren, wie bei- spielsweise mit Photoshop, bearbeitet. Auch hier kann man in dem, was Warhol einmal seine romantische Vorliebe für Tonband, Polaroid und Filmkamera nannte, einen Vorläufer ausmachen. Meyers Erkundung medialer Wahrnehmungs- prozesse zeigte sich in seiner Installation der In-direct-Bilder, die 2011 im Kunstverein in Emstetten zu sehen war. Gerhard Charles Rump widmete sich in seinem Aufsatz „Negationen der Positivität“ dem Zusammen- spiel des Videos mit negativen und positiven Bildern öffentlicher und privater Quellen vor dem Hintergrund von Meyers Gemälden. Dieses konzeptuell-perzeptive Experiment beschrieb Rump als eine Erkundung der Metarealität. Die ästhetischen Strategien von Addition und Subtraktion, von Verdecken und Enthüllen, tragen wesentlich zu der enigmatischen Qualität der Porträts von Harding Meyer bei. Auf den er- sten Blick wirken die Porträtierten sonderbar be- kannt, vielleicht sogar vertraut, doch fallen sie schnell wieder in die Anonymität zurück. Unnah- bar und fremd verbreiten sie eine geheimnis- volle Aura selbstversunkener Verinner - lichung, die den scheinbar ausdruckslosen Gesichtern zuwiderläuft. Es entsteht der Eindruck, als wären diese Gesichter zugleich mit einer scharfen und einer weichen Fokussierung aufgenommen worden. Dergestalt verbinden sie die gegenstandsgetreue Darstellung mit einer Idealisierung – wobei sich Letzteres als ein etabliertes künstlerisches Verfahren des Por- träts als Gattung der Malerei erweist. Die Kul- turwissenschaftlerin Sigrid Weigel hat in ihrem Buch Grammatologie der Bilder (2008) dafür plädiert, dass sich das En-face-Porträt im Ge- gensatz zu der populäreren Dreiviertelansicht oder dem Halbprofil aus der Tradition antiker Theater-masken entwickelt habe, die eine von dem sie tragenden Schauspieler vollkommen unabhängige Figur verkörperten. Und seit 1888 wurde der sogenannte Mugshot, das frontale Porträtfoto, für die Strafverfolgung und bei der Anlage von Kriminalakten verwendet. Die spezifische Wirkungsmacht von Harding Meyers Werken bezieht ihre Ausdruckskraft aus eben solchen Kontrasten: Enthüllung und Ver- schleierung, Intimität und Zurückhaltung, Tra- dition und Innovation, Porträt und Land - schaft, Figuration und Abstraktion. Fast jeden Aus- schnitt seiner Gemälde könnte man, los- gelöst von seinem Kontext, als eigenständige abs- trakte Komposition betrachten – vor allem na- türlich die jede Anspielung auf räumliche oder geografische Kontexte verweigernden Hinter- gründe. Die Melange von Abstraktion und Fi- guration zeichnete sich 1995 schon in Meyers erster Ausstellung ab – nur zwei Jahre nach der Beendigung seines Studiums bei Max Kaminski und Helmut Dorner an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe. Heute noch sieht er in dieser Präsentation seine Lieblings- ausstellung. Gezeigt wurden drei unterschied- liche Werkgruppen: kleinformatige Aquarelle auf Papier (von denen einige kaum mehr als 5 x 4 Zentimeter maßen), etwas größere Gouachen auf Holz und eine groß- formatige, mit Acryl auf ungrundierter Baum- wolle gemalte Serie. Die Ausstellung wies auf die weitere Entwicklung voraus: Es waren vielversprechende Arbeiten eines jungen Künstlers, der sich aufgemacht hatte, seinen Weg zu finden und dabei mit un- terschiedlichen Stilen und Materialien ex- perimentierte. Wie die in einem Art-Brut-Stil gehaltenen Gouachen zeigten auch die Aquarelle deformierte Köpfe. Die Gemälde, die mit 203 x 154 Zentimetern eine beträchtliche Größe hatten, legten hin- gegen Einflüsse von der Farbfeldmalerei nahe. So resultiert die Wir- kung von Lace (1994) aus dem Prozess des Aufbaus des Bildes aus dünnen Farbschichten, die auf der Oberfläche des vollendeten Werks an vielen Stellen durchscheinen. Auch wenn das Figurative sicher zu einer Art Markenzeichen von Meyers künstlerischer Arbeit geworden ist, hat er die Abstraktion nie ganz hinter sich gelassen. Das zeigte sich 2001 deutlich in der Ausstellung headhunter, der ersten Zusammenarbeit mit der Düsseldorfer Galerie Voss. Renate Puvogel hat in dem be- gleitenden Katalog darauf hingewiesen, dass einige der auf den Porträts zu sehenden Ge- sichter zunächst farblich reich gestaltet und ihre Eigenheiten fast plastisch herausgearbeitet worden seien. „Im Nachhinein aber“, so Puvogel weiter, „erfährt der wohlmodulierte Kopf dann breite, radikal flächenhafte, das Individuelle durchkreuzende Pinselspuren, die sogar ans Abstrakte reichen.“ Dieser Prozess der „Revision“, den Puvogel hier beschreibt, wurde erst mit der Verwendung der langsam trocknen- den und lange geschmeidigen Ölfarben anstelle der deutlich schneller antrocknenden und tendenziell opaken Acrylfarben möglich. Knapp sechs Jahre nach seinem Ausstellungsdebüt hatte Meyer somit nicht nur sein zentrales Thema gefunden und einen eigenen Stil ent- wickelt, sondern sich mit den Ölfarben auch ein geeignetes Material angeeignet und eine ganz eigenständige Arbeitsweise gefunden. In der Beherrschung dieser Charakteristika seiner Arbeit war er bemerkenswert selbstsicher geworden. Die Gemälde der Ausstellung bei Voss unterscheiden sich dabei auf mehreren Ebenen von denen der kommenden Jahre. Zum einen waren auf den meisten Bildern Kinder zu sehen, davon einige in einer Dreiviertelansicht und zwei in liegender Ruhepose. Zudem schau- ten viele der en-face Porträtierten den Betrach- tern noch nicht direkt in die Augen, sondern zur Seite. Mit Blick auf den Topos der kindlichen Unschuld, den man hier aufgegriffen sehen kann, ist die Farbpalette heller und pastelliger als auf späteren Gemälden. Ein sanfter Schleier scheint über den Gemälden zu liegen, der die Gesichter schemenhaft und träumerisch wirken lässt. Darin sind diese Bilder den unscharfen und ebenfalls auf Fotografien basierenden Bil- dern Gerhard Richters nicht unverwandt – vor allem natürlich dessen berühmtem Bild Ema (Akt auf einer Treppe) aus dem Jahr 1966. Als Serie vermittelt headhunter die Intimität der Schnapp- schüsse eines Familienalbums. Die nachhaltigste Veränderung, die sich mit dieser Werkgruppe abzuzeichnen begann, be- stand in der Abkehr von der vertikalen Aus- richtung traditioneller Porträts und Meyers Hinwendung zu horizontalen Formaten. Diese signifikante Entwicklung resultierte aus seiner Faszination für Bilder, wie man sie von der Lein- wand des Kinos kennt, dem Fernseher und dem Computerbildschirm – also horizontal ausger- ichteten Quellen visueller Informationen. Infolge der Favorisierung eines klassischen Land- schaftsformats bedurfte es einer grundlegen- den Anpassung der kompositorischen Pro- portionen seiner Arbeiten. Die Darstellung eines Kopfes auf einer horizontalen Leinwand könnte den sich durch das Format vergrößern- den Hin- tergrund dominanter als das Gesicht erscheinen lassen. Meyer entschied sich des- wegen dazu, die Porträtierten so weit in den Vordergrund des Bildes zu rücken, dass ihre Gesichter beschnit- ten werden und der Fokus zwischen Kinn und Haaransatz liegt. Gleich- zeitig bleibt in diesen Porträts etwas Wesent- liches von der Ästhetik der Landschaftsdar- stellung erhalten. Meyer schafft einen durch die Augen angedeuteten bildnerischen Horizont, der durch deren waagerechte Ausrichtung akzentuiert wird. Komponiert und strukturiert sind diese Porträts demnach wie Bilder von Land- schaften, wobei sich die Beschaffenheit der Oberfläche, die üblicherweise keine räumlichen Andeutungen aufweist, gleichmäßig über die gesamte Lein- wand erstreckt. In einer Sammlung von Aufsätzen, die unter dem Titel The Iconography of Landscape 1988 erschienen ist, haben die Geografen Denis Cosgrove und Stephen Daniels die Landschafts-malerei als „geordneten Ausdruck menschlicher Wahrnehmung“ und damit als eine Funktion des Sehens beschrieben. Landschaft, so die Au- toren, setze sich nicht nur aus dem zusammen, was vor unseren Augen liegt, son- dern auch unter Zuhilfenahme dessen, was sich in un- seren Köpfen abspielt. Indem Harding Meyer das menschliche Auge als strukturierendes Element in der Komposition seiner Bilder auf- greift, folgt er dem Beispiel des großen eng- lischen Malers Lucian Freud, der jedes seiner Gemälde mit den Augen des Por- trätierten begann. Auf eine Frage Leonie Schillings antwortete Harding Meyer in einem Interview für die Zeitschrift Arte Al Limite einmal: „Zunächst schaue ich den zu Porträtierenden in die Augen und suche nach einem Ansatzpunkt, dem Be- dürfnis nach Empathie.“ Wenn Schilling danach fragt, wie Meyer es schaffe, aus etwas per se Schönem durch eine Änderung des Kontexts und die Verwandlung in ein Porträt auf Gefühle anzu- spielen, die vorher nicht da waren, dann weist sie damitsehr konkret auf eine Paradoxie im Kern von Meyers Schaffen hin. Meyer ver- weist in seiner Antwort darauf, dass dies zu ei- nem Teil dem langwierigen Prozess des Malens zu verdanken sei, der ausgiebigen malerischen Auseinandersetzung mit den Dargestellten, die sich letztlich bis in die Ausstellung der Arbeiten fortsetzt. Am eindrucksvollsten wirken Meyers Porträts, wenn sie vis-à-vis den Betrachtern hängen – dann, wenn sich Betrachter und Be- trachtete direkt in die Augen schauen können. (Letzteres ist eine der geläufigeren von ins- gesamt 269 englischen Idiomen, in denen das Auge eine Rolle spielt. Im Vergleich dazu verfügt die deutsche Sprache lediglich über 82 ver- gleichbare Redensarten.) Mit dieser Konfrontation von Dargestellten und Betrachtern greift Meyer die Vorstellung vom Auge als einem Fenster zur Seele auf, was bei Porträts, auf denen die Dargestellten nicht nur anonym, sondern auch Komposita aus meh- reren Gesichtern sein können, eine eigen- tümliche Dimension impliziert. (Manche sind zudem noch mit falschen Zähnen entstellt, durch Perücken verfremdet, mit Tesafilm verzerrt oder Gegenstand elektronischer Manipulationen gewesen.) Üblicherweise schauen seine Modelle den Betrachtern so unvermittelt direkt in die Augen, dass die Gemälde ein Gefühl des Unwohlseins auszulösen vermögen: Schauen wir tief in die Augen der Dargestellten – oder schauen sie in die unseren? Das Resultat könnte man als einen wechselseitigen Voyeurismus bezeichnen, als eine Art Peep- show in beide Richtungen. Auf die Wirkungs- macht eines so unnachgiebigen Blicks greift auch das Logo des Fernsehformats Tatort zurück, der ältesten noch produzierten Krimi- serie der deutschen Fernsehgeschichte. Seit den 1970er-Jahren beginnt jede Folge mit ei- nem Augenpaar, dessen rechtes Auge im Zen- trum eines Fadenkreuzes steht. Der junge Schauspieler Horst Lettenmeyer, dessen Blick bis auf den heutigen Tag höchst eindringlich auf kommende unbekannte Gefahren hinweisen, erhielt für diese Darbietung seinerzeit übrigens 400 Mark. Wie die neuesten, auf biometrischer Erkennung basierenden Sicherheitstechnolo- gien belegen, sind Augen alles andere als anonym. Die komplexe und individuelle Zeich- nung jeder Iris ist einzigartig und kann selbst aus einer gewissen Entfernung noch erkannt werden. Bei Harding Meyer haben wir es mit extremen Vergrößerungen zu tun, wie man sie aus Filmen kennt. Filmemacher setzen sie vor allem mit dem Ziel ein, die Gefühlslage eines Prota- gonisten zu veranschaulichen. Um solchen Offenbarungen einen dramatischen Akzent zu verleihen, entwickelte man im Goldenen Zeit- alter des Hollywoodkinos ein spezielles „Eyelight“ in Form eines funkelnden Glitzerns, das meist einen Hinweis auf die Absichten der Figuren implizierte. Beim gemalten Porträt nutzte man solche Glanz- punkte, die dem Blick des Porträtierten nicht zuletzt eine natürliche Lebhaftigkeit verleihen sollten, schon lange. Die Werke von Harding Meyer sind in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Es sind solche klassischen Kunst- griffe, auf die auch Meyer Bezug nimmt und mit denen er sei- nen Figuren, ihrer unbekannten Herkunft zum Trotz, eine ihre Betrachter von sich einnehm- ende Persönlichkeit verleiht. Kraft seines künstlerischen Schaffens werden auch sie zu Mitgliedern der Menschheitsfamilie. 1 Unveröffentliches Interview mit David Galloway (Karlsruhe, 8. September 2016). 2 Gerhard Charles Rump, „Der Mensch in Überformat“, Die Welt (August 5, 2006), S. 19. 3 Siehe Sigrid Weigel, Grammatologie der Bilder (Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2015).. 4 Aus einem Telephongespräch mit Harding Meyer (12 November 2015). 5 Renate Puvogel, „Köpfe – Horizontal“, aus dem Ausstellungkatalog headhunter (Düsseldorf: Galerie Voss), S. 8. 6 Denis Cosgrove und Stephen Daniels, The Iconography of Landscape: Essays on the Symbolic Representation, Design and Use of Past Environments (Cambridge: Cambridge University Press, 1988), S. 108. Übersetzung: Christoph Schulz 7 Leonie Schilling, „Harding Meyer“, Arte al limite (November-Dezember, 2014), S. 19.
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JoJo Tillmann // What you see is what you get 30.01.2009 - 28.02.2009 |
Sandra Ackermann // Die Wirklichkeit ist nicht die Wahrheit 21.11.2008 - 24.01.2009 |
Kate Waters - Getting used to the 21st Century 10.10.2008 - 15.11.2008 |
Mihoko Ogaki - Milky Ways 04.09.2008 - 04.10.2008 |
Sommer 2008 // Malerei 12.08.2008 - 30.08.2008 |
Silke Rehberg: Stationen 1,4,6,7,11,12,13,14 13.06.2008 - 12.07.2008 |
Maia Naveriani: At home with good ideas 09.05.2008 - 07.06.2008 |
Justin Richel: Rise and Fall 04.04.2008 - 03.05.2008 |
Davide La Rocca - Strange Object 08.02.2008 - 28.03.2008 |
Frank Bauer: AkikoAlinaAlinkaAndrew.... 30.11.2007 - 02.02.2008 |
Maria Friberg: Fallout 12.10.2007 - 24.11.2007 |
Harding Meyer / in sight 06.09.2007 - 11.10.2007 |
SUMMER '07 17.07.2007 - 01.09.2007 |
Kay Kaul - Wasserfarben 15.06.2007 - 14.07.2007 |
Sandra Ackermann - Point Blank 02.03.2007 - 28.04.2007 |
Tamara K.E.: pioneers - none of us and somewhere else 19.01.2007 - 24.02.2007 |
Till Freiwald 17.11.2006 - 13.01.2007 |
Claudia Rogge: U N I F O R M 01.09.2006 - 11.11.2006 |
Kate Waters: Killing Time 05.05.2006 - 17.06.2006 |
Katia Bourdarel: The Flesh of Fairy Tales 31.03.2006 - 29.04.2006 |
Mihoko Ogaki: vor dem anfang - nach dem ende 10.02.2006 - 18.03.2006 |
Silke Rehberg: RICOMINCIARE DAL CORPO 27.01.2006 - 26.02.2006 |
Sandra Ackermann 08.12.2005 - 15.01.2006 |
Corrado Zeni 04.12.2005 - 11.01.2006 |
Frank Bauer 18.11.2005 - 15.01.2006 |
Harding Meyer 07.10.2005 - 12.11.2005 |
AUFTAKT 02.09.2005 - 01.10.2005 |
Claudia Rogge: Rapport 17.06.2005 - 20.07.2005 |
Silke Rehberg: Schmetterlingssammlung 13.05.2005 - 11.06.2005 |
Kate Waters: Einzelausstellung in der Gallery Thomas Cohn, Sao Paulo 16.04.2005 - 20.05.2005 |
Vittorio Gui: FROZEN MOMENTS 08.04.2005 - 07.05.2005 |
Kay Kaul - ARTSCAPES 03.04.2005 - 29.05.2005 |
SEO Geheimnisvoller Blick 04.03.2005 - 02.04.2005 |
Claudia van Koolwijk im Museum Bochum 26.02.2005 - 17.04.2005 |
Corrado Zeni - Six Degrees of Separation 26.11.2004 - 15.01.2005 |
Maia Naveriani: What' s the difference between ME and YOU? 15.10.2004 - 20.11.2004 |
Tamara K.E.: MAD DONNA AND DONNA CORLEONE 03.09.2004 - 09.10.2004 |
Davide La Rocca: Real Vision Reflex 12.06.2004 - 17.07.2004 |
Kay Kaul COLLECTORSCAPES 23.04.2004 - 05.06.2004 |